Cover
Titel
Le sang des lilas. Une mère mélancolique égorge ses quatre enfants en mai 1885 à Genève


Autor(en)
Porret, Michel
Erschienen
Chêne-Bourg 2019: Georg éditeur
Anzahl Seiten
395 S.
von
Maurice Cottier, Departement für Zeitgeschichte, Universität Freiburg (Schweiz)

Dieses Buch dreht sich um einen einzigen Mordfall. Wie der Untertitel bereits anklingen lässt, tötete 1885 in Genf eine Mutter drei ihrer vier Kinder. Das vierte überlebte den Vorfall mit bleibenden Schäden. Wer einmal eine Gerichtsakte in den Händen hielt, kann die Faszination des Autors verstehen. Kaum ein anderer Quellentypus kann mit der Reichhaltigkeit einer gerichtlichen Aktensammlung – bestehend aus Polizeirapporten, Verhörprotokollen, persönlich verfassten Memoiren, beschlagnahmten Briefen, medizinischen Gutachten und Protokollen der Gerichtsverhandlung mitsamt Urteil – mithalten. Diese Diversität an Dokumenten schöpft das Buch voll aus. Minuziös und dennoch mit sicherer Hand setzt Porret die verschiedenen Aspekte des Kriminalfalls zu einem flüssigen Narrativ zusammen. Daraus resultieren spannende Einblicke nicht nur in die Genfer Strafjustiz, sondern auch in die sich rasch formierende internationale Psychiatrie, die Presseberichterstattung und in das gesellschaftliche und kulturelle Leben in einem Genfer quartier populaire des späten 19. Jahrhunderts.

Porret zeichnet zuerst anhand von Polizeirapporten und Verhörprotokollen detailliert den Tathergang und die Verhaftung von Jeanne Lombardi nach, bevor er das von ihr in Untersuchungshaft selbst verfasste Memoire ausgiebig heranzieht, um das Vorleben der Angeklagten und die Umstände, die zur Tat führten, genau zu beschreiben. Des Weiteren trägt der Autor eine Vielzahl von Zeitungsartikeln zusammen, die zeigen, wie die Ereignisse nicht nur die Genfer Bevölkerung, sondern auch die internationale Presse beschäftigten. In den weiteren Kapiteln steht das Gerichtsverfahren im Zentrum. Schliesslich dienen Krankenakten (die wie die Presseartikel nicht Teil der Gerichtsakte sind) dazu, das Leben der Mörderin in einer psychiatrischen Heilanstalt nach der Tat zu rekonstruieren.

Dass die Angeklagte trotz Eingeständnis der Schuld nicht zu einer Haftstrafe verurteilt, sondern administrativ versorgt wurde, ist denn auch das eigentliche Kernthema des Buchs. Während des Gerichtsverfahrens entstand eine Vielzahl sich teilweise widersprechender medizinischer Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten. Unter den Gutachtern befanden sich Psychiatriegrössen wie Ambroise Tardieu, Auguste Forel oder Richard von Krafft-Ebing. Der Strafverteidiger Adrien Lachenal nutzte die entlastenden Aussagen in den Gutachten aus, um die Jury zu einem Freispruch zu bewegen. Souverän zeigt Porret auf, wie im Zuge dieser rechtsmedizinischen Auseinandersetzung, der «Fall Lombardi» entstand, welcher in der forensischen Psychiatrie und der populären Presse noch Jahrzehnte später rezipiert wurde. Der Fall problematisierte die klare Trennung zwischen Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit, wie sie das aufgeklärte Strafrecht des 18. Jahrhunderts vorsah. Damit stellte er eine wichtige Etappe in der Medikalisierung der Strafjustiz dar, die ab dem 19. Jahrhundert erfolgte. Während in der juristischen Logik die Frage der Schuld im Zentrum stand, interessierten sich die Ärzte eher für die ‹Anormalität› bzw. ‹Gefährlichkeit› einer angeklagten Person. Diese beiden Prinzipien vermischten sich in der Folge zunehmend. Die Expertendiskussion rund um den Fall Lombardi hatte denn auch konkrete Auswirkungen. In Anschluss an den Gerichtsprozess revidierte der Kanton Genf seine Strafjustiz und gab den Gerichten fortan die Möglichkeit, Angeklagte trotz Schuldunfähigkeit in einer Anstalt zu internieren.

Im Vergleich zu den späteren Kapiteln, in denen anhand der medizinischen Gutachten und den Protokollen der Gerichtsverhandlung das Zusammenspiel von Strafjustiz und der aufstrebenden Disziplin der Psychiatrie einer scharfen Analyse unterzogen wird, sind die anfänglichen Ausführungen zur Tat und dem Leben der Angeklagten eher deskriptiv. Das dafür ausgiebig zitierte Memoire der Angeklagten wird in erster Linie benutzt, um die emotional schwierige und ökonomisch prekäre Situation der Familie der Angeklagten im sozialen Milieu des städtischen Handwerks zu beschreiben. Eine kritische historische Einordnung, wie sie Porret so vorzüglich bei den medizinischen Gutachten und dem Vorgehen Lachenals vornimmt, bleibt hier mehrheitlich aus. Dadurch bleibt Jeanne Lombardi trotz ihrer ausführlichen Erzählung als historische Akteurin in Porrets Darstellung im Gegensatz zu den Ärzten und Juristen seltsam passiv. Wie medizinische Gutachten und juristische Dokumente sind aber auch autobiografische Zeugnisse historische Texte, die auf ihre Intertextualität und Wirkungskraft hin untersucht werden können.1

Langzeitstudien zu interpersonaler Gewalt legen nahe, dass Tötungen von heranwachsenden Kindern durch ihre Eltern im späten 19. Jahrhundert zunahmen. Lombardis Tat war demnach vermutlich Teil eines historischen Trends.2 In diesem Zusammenhang ist interessant, dass sie angab, durch einen Zeitungsbericht über einen ähnlichen Fall inspiriert worden zu sein (S. 46). In der Bevölkerung zirkulierten folglich um 1900 kulturelle Skripts über solche Gewalthandlungen, welche sich historisch analysieren lassen. Aus Porrets Ausführungen lässt sich ableiten, dass das Memoire Lombardis eine tragische Selbsterzählung beinhaltet. Lombardi beschrieb sich als tragische Heldin, für die der eigene Untergang ab einem gewissen Zeitpunkt unausweichlich war. Solche Narrative finden sich häufig in Memoiren und Lebensläufen von Gewalttäter*innen aus der Zeit um 1900.

Möglicherweise entfaltete Lombardis tragische Erzählung auch in den medizinischen Gutachten und vor Gericht eine Wirkung. Denn die Ärzte stützten ihre Gutachten wesentlich auf die Lektüre des Memoires. Eine solche Konstellation und Dynamik lässt sich zumindest beim Fall Rivière feststellen, der 1973 von Michel Foucault dokumentiert wurde und Porret explizit als Inspiration dient (S. 385).3 Dort griffen die Ärzte den tragischen Erzählstrang des Bauernjungen Pierre Rivière auf und deuteten ihn um. Die vielen Anzeichen heldenhafter Besonderheit, die Rivière laut dem Memoire seit seiner Kindheit auszeichneten, nahmen die Ärzte als Indizien für eine sich früh äussernde ‹Anormalität› des Angeklagten. Den Mord beschrieben sie nicht als Heldentat im Kampf gegen die vom Mörder als ungerecht empfundene (weil matriarchalische) Gesellschaft, sondern als ultimativen Beweis für langwährende Geisteskrankheit. Somit übernahmen die Ärzte in ihren Gutachten die von Rivière gesetzte Erzählstruktur mitsamt ihren Plots, deuteten diese aber um.4 So betrachtet war möglicherweise auch Jeanne Lombardi nicht nur als Mörderin, sondern auch als Autorin ihres Memoires aktiver an der Entstehung dieses historisch bedeutsamen Falls beteiligt als es Porrets Abhandlung vermuten lässt.

Diese Ergänzungen zeigen aber letztlich nur, dass der Fall Lombardi auch 137 Jahre nach seiner Entstehung weiterhin für Gesprächsstoff sorgt. Dafür verantwortlich ist dieser luzide und spannend zu lesende Beitrag zur Geschichte der Kriminalität und Strafjustiz.

1 Eine ähnliche Kritik hatte bereits Carlo Ginzburg an Foucaults Umgang mit dem ebenfalls ausführlichen Memoire des Mörders Pierre Rivière formuliert. Siehe Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin 2007, S. 13.
2 Jeffrey S. Adler, First in Violence, Deepest in Dirt. Homicide in Chicago 1875–1920, Cambridge 2006, S. 59, 70; Maurice Cottier, Fatale Gewalt. Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne: das Beispiel Bern 1868–1941, Konstanz 2019 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 31), S. 119 f
3 Michel Foucault, Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz, Frankfurt a. M. 1975.
4 Maurice Cottier, Tragik und Gericht. Eine kulturhistorische Analyse von Pierre Rivières Fall. Strafjustiz, Psychiatrie und das Memoire, in: Ruben Hackler, Katherina Kinzel (Hg.), Paradigmatische Fälle. Konstruktion, Narration und Verallgemeinerung von Fall-Wissen in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Basel 2016 (Itinera 40), S. 137–155.

Zitierweise:
Cottier, Maurice: Rezension zu: Porret, Michel: Le sang des lilas. Une mère mélancolique égorge ses quatre enfants en mai 1885 à Genève, Chêne-Bourg 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 312-314. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.